Iris Bouhra  – Freie Autorin

Leben ohne Perspektive

Freiheit macht nicht satt

 

Auch heute, fünf Jahre nach der Revolte, sind mehr ein Drittel aller Hochschulabsolventen ohne Arbeit. In den Provinzen im Landesinneren, dort, wo die Aufstände begannen, ist die Situation heute noch schwieriger als vor  der Revolution: Dort ist jeder zweite junge Akademiker arbeitslos. Der Traum von einer eigenen Familie bleibt für viele von ihnen unerfüllbar und sozialer Aufstieg ist nahezu unmöglich.

Das Land leidet immer noch an einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, die Haushaltsdefizite sind hoch, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung steigen weiter an. Grundlegende Reformen hat es nicht gegeben und das tägliche Leben hat sich nicht wie erhofft entscheidend verbessert, sondern ist noch belastender geworden. Seit der Revolution sind die Preise für Lebensmittel sowie die allgemeinen Lebenshaltungskosten drastisch angestiegen und selbst Grundnahrungsmittel sind teurer als vor der Revolte.

 

Tourismusbranche

 

Genug Arbeitsplätze sind nach wie vor nicht vorhanden und die Arbeitslosenrate steigt weiter an und  so konkurrieren beispielsweise in der Tourismusbranche Akademiker mit Alteingesessenen um die wenigen Stellen als Kellner, Gepäckträger oder Küchenhilfe.

Diese Branche ist allgemein besonders stark vom täglichen Kampf ums Überleben betroffen. Im Alter von 15 Jahren, also nach der achten Klasse, verlassen viele Tunesier die Schule und steigen direkt in das Hotelgewerbe ein. Sie arbeiten als Bäcker, Koch, Servicekraft, Barkeeper oder Gepäckträger. Arbeitsverträge werden in der Regel nur für eine Saison ausgestellt. Folglich wird im Sommer sehr viel gearbeitet, während der Winter von Arbeitslosigkeit geprägt ist. Dieser sich alljährlich wiederholende Kreislauf ohne Zukunftsperspektive prägt die Menschen zutiefst: Sie altern vorzeitig, sind häufig alkohol- oder medikamentenabhängig und leiden unter Depressionen. Hinzu kommt, dass seit den beiden Terroranschlägen auf ausländische Touristen im Jahre 2015 nur noch sehr wenige Urlauber in das Land reisen. Dies führte zu empfindlichen Einbußen in der Tourismusbrache und zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Wer Glück hat, bekommt einen Arbeitsvertrag für eine Saison in der Türkei.

 

Tänzer sein

 

Tänzer haben in der tunesischen Gesellschaft einen sehr schlechten Ruf. Viele Menschen sind der Meinung, dass jeder Tänzer homosexuelle Neigungen hat. Da der Islam Homosexualität verbietet, verachten viel Menschen diesen Beruf. Auf der Suche nach Arbeit suchen sich gut ausgebildete Tänzer häufig ein Umfeld, in dem das Tanzen offiziell und ohne Diskriminierung möglich ist. Dafür bietet sich beispielsweise eine Tätigkeit als Animateur in der Hotelbranche an.  

 

Alkohol, Drogen. Resignation. Warten und: Der Traum von Deutschland/Europa

 

„Das ist kein schönes Leben hier. Ich arbeite im Hotel als Gepäckträger, aber ich verdiene nichts. Heute ist mein freier Tag und ich sitze hier und trinke Bier. Was ist das für ein Leben?“ und: „Ich möchte gerne nach Deutschland gehen.“

Diese Sätze hört man in Tunesien wieder und wieder.

 

Alkohol

 

„Ich trinke jeden Tag, schon morgens brauche ich mein Bier. Ich arbeite den ganzen Tag und verdiene fast nichts, es reicht nicht zum Leben. Meine Mutter und meine Schwester geben mir jeden Monat Geld. Ich will nach Europa! Die Touristen geben auch kein Trinkgeld mehr, sie sind arrogant. Ich will nach Deutschland oder nach Frankreich. Die Russen mag ich nicht, viele benehmen sich schlecht. Sie trinken viel. Ich hatte eine spanische Freundin, heute ist sie abgereist. Schau, das ist das Bild von mir und meiner Geliebten.“

Die jungen Menschen wohnen bei ihren Eltern, selbst wenn sie arbeiten. Nur wenn die Familie weit weg wohnt, teilen sich mehrere Männer eine kleine Wohnung oder ein Zimmer. Im Winter kommen nur sehr wenige Touristen nach Tunesien. Dann gibt es nicht viel Arbeit und sie gehen zurück zu ihren Familien. Wenn die Saison im Frühling erneut beginnt, kommen sie wieder, um sich eine Arbeit und Unterkunft zu suchen. Ein ewiger Kreislauf, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt.

 

Bildung, die an der beruflichen Realität vorbeigeht

 

Ben Ali war sehr an Europa orientiert und stets darum bemüht, im internationalen Kontext hoch angesehen zu sein. Nach außen präsentierte er seine „Erfolge“ einer florierenden Wirtschaft sowie eines tadellosen Bildungssystem. Er verstand es, die Welt zu täuschen.

In den 90er Jahren hatte der Diktator dafür gesorgt, dass das Oberstufen-Niveau an Tunesiens Schulen so niedrig angesetzt wurde, dass selbst nur mittelmäßig begabte Schülerinnen und Schüler das Abitur ohne große Anstrengung bestehen konnten. Das anschließende kostenfreie Studium was allen Abiturienten zugesichert wurde, zog einen weiteren Qualitätsabbau im Bildungssektor nach sich. Ben Ali handelte nach dem Motto: Lieber zu viele Studenten als zu viele Arbeitslose. Ihm schien nicht bewusst zu sein, dass dies letztendlich eine Milchmädchenrechnung war, die so nicht aufgehen konnte, oder er war ein Meister im Verdrängen der Realität.

 

Die tunesische Hochschullandschaft heute

 

Auch heute ist das Studium nicht viel mehr als bloßer Zeitvertreib: Wer studiert, sitzt zumindest nicht auf der Straße. Tunesische Uni-Absolventen sind in der Regel nur auf dem Papier hoch qualifiziert, denn die Studieninhalte sind veraltet, zu theorie-lastig und für die Anforderungen, die eine moderne Arbeitswelt an die Menschen stellt, nicht zu gebrauchen.

Während der Ben-Ali-Ära war es ohne Beziehungen oder Bestechungsgelder fast unmöglich, eine Anstellung zu bekommen, und an diesem System hat sich bis heute nicht viel geändert.

 

Patriarchalische Strukturen im Bildungswesen

 

Im Rahmen einer globalen Meinungsumfrage des World Value Survey (WVS) wurde ein breites Spektrum an Wertvorstellungen in verschiedenen 59 Ländern (47 nicht-arabische Staaten und 12 arabische Länder) untersucht. Die arabischen Staaten waren Jordanien, Ägypten, Palästina, Libanon, Irak, Marokko, Algerien, Tunesien, Qatar, Jemen, Kuwait und Libyen.

Folgende Werte wurden untersucht:

  • Unterstützung der Demokratie
  • Bereitschaft für bürgerliches Engagement
  • Gehorsam gegenüber Autorität
  • Unterstützung für patriarchalische Werte, die die Diskriminierung der Frau untermauern.

 

World Value Survey kam zu dem Ergebnis, dass diejenigen Länder, die reicher, gebildeter und politisch offener waren, eine signifikant größere „Unterstützung der Demokratie“ und „Bereitschaft für bürgerliches Engagement“ nachweisen können. Gegenüber den Werten „Gehorsam gegenüber Autoritäten“ sowie „Unterstützung patriarchalischer Werte“ verhalten sie sich (eher) ablehnend.

Arabische Länder bleiben hier trotz Bildung weit hinten. Sie weisen eine geringere Präferenz für Demokratie auf, legen weniger bürgerschaftliches Engagement an den Tag, bringen Autoritäten mehr Respekt entgegen und eignen sich vermehrt patriarchalische Werte an.

Des Weiteren wird festgestellt, dass Religiosität Konservatismus fördert, unabhängig von der jeweiligen Religion. Araber bewerten Religiosität bedeutend höher als Bewohner anderer Regionen. Der Einfluss von Bildung auf soziale Werte hat in arabischen Ländern einen signifikant schwächeren Einfluss als in anderen Staaten.

 

Zwei Faktoren sind maßgeblich an diesem Ergebnis beteiligt:

 

  1. eine überwiegend muslimische Bevölkerung und die dem Islam inne wohnenden patriarchalischen Strukturen
  2. autokratische Regierungen in arabischen Staaten, die in den vergangenen 50 Jahren in weiten Teilen der Region regiert haben.

 

Soziale Wertvorstellungen werden über Bildung vermittelt

 

Die pädagogische Literatur der Region macht deutlich: Bildung ist in der Regel immer noch auf Indoktrination (Auswendiglernen) ausgerichtet. Es wird sehr viel Wert und Zeit auf die Vermittlung religiöser Themen und Werte gelegt, analytische Fähigkeiten bleiben weitestgehend unberücksichtigt und selbständiges Denken ist unerwünscht. Diese Pädagogik verfolgt das Ziel, Gehorsam zu fördern und Autoritäten anzuerkennen. Begriffe wie Selbstentfaltung und aktive Mitgestaltung der Gesellschaft bleiben im Bildungssystem arabischer Staaten Fremdwörter.

 

Forderung der WVS für die Zukunft

 

Die genannten vier Werte sollten in der schulischen Bildung verankert werden, um eine nachhaltige Veränderung arabischer Gesellschaften in Richtung Demokratie zu bewirken. Darum müssen die Aktivisten der Zivilgesellschaft ausdauernd kämpfen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Gebildete Bürger in arabischen Ländern sind tendenziell weniger emanzipiert als diejenigen in nicht-arabischen Ländern.