Vetternwirtschaft und Korruption
ist auch nach 2011 noch ein großes Problem im Land. Ohne Schmiergeldzahlungen geht nach wie vor in vielen Bereichen sehr wenig voran. Rund 54 Prozent aller tunesischen Unternehmer halten sich nicht an das Gesetz. Das Land rangiert aktuell auf Platz 76 (von 167) Ländern im internationalen Korruptionsindex. Obwohl mit Ben Alis Flucht im Januar 2011 die prominenten Köpfe der korrupten Wirtschaftselite von der Machtspitze verdrängt wurden, hat sich der Alltag diesbezüglich kaum verändert.
Der Schwarzhandel mit Benzin, Zigaretten und Waffen floriert. Nach wie vor fließen Schmiergelder, um Verwaltungsvorgänge zu beschleunigen.
Politikverdrossenheit der Tunesier
Tunesiens Jugend hat kein Vertrauen in das aktuelle politische System. Die Menschen fühlen sich nach wie vor mit ihren Bedürfnissen nicht ernst genommen. Diese Politikverdrossenheit zeigt sich ganz konkret an der extrem geringen Wahlbeteiligung: Nur 12, 5 Prozent der 18-21jährigen ging zur Wahl.
Mohamed Liman, Politikwissenschaftler der Uni Sousse ist der Meinung, dass der Wechsel in Tunesien kein radikaler Umbruch auf allen Ebenen gewesen sei. Das Land habe sich weder ökonomisch noch sozial oder kulturell zum Besseren hin verändert. Für Liman war es lediglich eine politische Revolution, bei der soziale Unruhen den Ausschlag gaben.
Obwohl Ben Ali und sein engster Machtzirkel entfernt wurden, lebt der Geist dieses Systems weiter in öffentlichen Institutionen. Im Grunde wurde nur der Herrscher entfernt, das von Ben Ali etablierte korrupte System ist geblieben und die versprochenen Reformen haben bislang nicht stattgefunden.
Fehlendes politisches Bewusstsein
Der Rechtswissenschaftler Slim Laghmani sieht die Krise des Staates als größte Bedrohung für den demokratischen Wandel in Tunesien. Er meint, die Tunesier begreifen den Staat nicht als das Ergebnis ihres Willens, den sie mittels demokratischer Wahlen mitgestalten können, sondern als etwas ihnen von außen Übergestülptes. Die Menschen haben kein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Politik nach bestimmten Regeln und Gesetzen funktioniert. Die Tunesier haben gelernt: Gerechtigkeit erfährt man von einem Herrscher, nicht von den Gesetzen. Der Diktator Ben Ali wurde zur Instanz des Gebens und Nehmens und nicht die Gesetze.
Dieses Denken geht bis auf die Zeiten der tunesischen Beys und das französische Protektorat zurück und wurde schließlich von dem Gründervater (und Vormund der Nation) Habib Bourguiba, der sich 1974 zum Präsidenten auf Lebenszeit ernennen ließ, weiter zementiert.
Um eine Bewusstseinsänderung bei den Menschen zu erlangen, ist es erforderlich, an der Basis mit dem Aufbau einer lokalen Demokratie zu beginnen. Darin fehlt den Tunesiern nach jahrelanger Fremdbestimmung noch die Erfahrung.
Tunesiens Präsident, Béji Caid Essebsi (BCE)
Tunesiens Präsident, Béji Caid Essebsi (BCE) überschreitet zunehmend seine Kompetenzen, seinen Sohn setzte er als Parteileiter der stärksten Partei Tunesiens ein – Nidaa Tounes – was die Spaltung von Nidaa Tounes zur Folge hatte. Aus Protest legten zahlreiche Parteimitglieder und Minister ihre Ämter nieder und die Ennahda wurde wieder die stärkste Kraft im Parlament.
Die Verwaltungsposten des Justiz- und Polizeiapparates besetzen vor allem Ennahda-Sympathisanten.
Eine parlamentarische Opposition existiert nur minimal.
Jüngstes skandalöses Beispiel tunesischer Rechtsprechung:
Zahlreiche homosexuelle Menschen wurden verhaftet und aus ihrer Heimatstadt verbannt. Wie ist das möglich in einem Land, das jüngst eine demokratische Verfassung installiert hat?
Die ur-alten Gesetze aus den Zeiten von Ben Ali und Habib Bourguiba wurden nicht geändert. Die Entscheidungen von Polizei und Justiz werden immer noch von den Dekreten bestimmt, die in der Vergangenheit erlassen wurden.
Um wichtige rechtliche Fragen endgültig klären zu können und um Präzedenzfälle zu schaffen, fehlt noch ein Verfassungsgericht. Bislang existiert lediglich eine provisorische Instanz für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsprechung.
Politische Situation 2017
Seit dem Umbruch hat Tunesien bereits den 7. Premierminister. Eine Regierung hält in der Regel nicht länger als ein Jahr. Unter diesen Umständen können natürlich für das Land keine nachhaltigen Entwicklungskonzepte erarbeitet und umgesetzt werden. Die Regierenden sind momentan nur noch die Verwalter des Status Quo, es entsteht nichts wirklich Neues, die Bevölkerung und insbesondere die Jugend, hat nach wie vor keine Zukunftsperspektiven.
Todesstrafe
Obwohl Tunesien seit 2014 eine demokratische Verfassung hat, wurde die Todesstrafe nicht abgeschafft. Sie wird seit 1991 nicht mehr vollstreckt, doch auch heute werden in Tunesien immer noch Menschen zum Tode verurteilt. Die letzte Hinrichtung in Tunesien war am 9.10.1991. Bei den liquidierten Personen handelte es sich um fünf Männer, die unmittelbar am Mord eines Sicherheitsbeamten beteiligt gewesen waren.
Nach dem politischen Umbruch im Januar 2011 wurden die meisten Strafen in lebenslange Haft umgewandelt und so fristen die Verurteilten in den tunesischen Verliesen ein ungewisses Schicksal. In manchen Fällen seit mehr als 20 Jahren.
In den Anfangsjahren der tunesischen Republik wurden überwiegend politische Häftlinge (Gewerkschafter, linke Politiker), denen Verstöße gegen die Staatssicherheit vorgeworfen wurden, durch Hängen oder Erschießen hingerichtet. Später waren es die Anhänger der islamistischen Bewegung, aus der die heutige Regierungspartei Ennahda hervorging. Heute handelt es sich in den meisten Fällen um Mörder, Totschläger und Vergewaltiger.
Ihre Geständnisse wurden oft unter Gewalteinwirkung erzwungen und die Angeklagten wurden mehr schlecht als Recht von einem Zwangsverteidiger beraten. Erst seit dem Jahr 2000 kann man in Tunesien Berufung gegen ein Urteil einlegen. Die verurteilten Menschen kommen häufig aus sehr ärmlichen Verhältnissen und waren niemals zuvor in ihrem Leben straffällig.
Inzwischen haben sich die Haftbedingungen etwas verbessert. Statt in Isolationshaft leben die verurteilten Menschen in Gruppenzellen und haben Kontakt zur Außenwelt und zu ihren Familienangehörigen.