Die islamische Brüderlichkeit
Der Islam hat einen Begriff geprägt, der ähnlich bedeutsam ist wie die christliche Nächstenliebe: Die islamische Brüderlichkeit. Um den großen Zusammenhalt verstehen zu können, den man so häufig in der islamischen Gemeinschaft findet, muss man wissen, was der Begriff „Brüderlichkeit im Islam“ beinhaltet bzw. welche Grundgedanken sich dahinter verbergen. Der Ursprung der Brüderlichkeit ist in der Frühzeit des Islam zu finden. Um die junge islamische Gemeinde zu stärken sowie den Zusammenhalt und die Verbundenheit unter den ersten Muslimen zu festigen, kam der Gedanke der brüderlichen Verbundenheit und Hilfe auf.
So berichteAbu Musa (16):
„Der Prophet sagte: „Die Gläubigen sind zueinander wie ein Gebäude, dessen einer Teil dem anderen Halt gibt.“ Buhari (Ferchel 1991, 431)
nach Anas (622):
„Bei dem, in dessen Hand meine Seele ist: Niemand von euch ist (wirklich) gläubig, bis er seinem Bruder das wünscht, was er sich selbst wünscht.“ Buhari, Muslim (Khoury 1988, 319)
Dieser Hadith besagt, dass jeder gläubige Muslim ein Teil des Ganzen ist. Um die Stabilität des Gebäudes nicht zu gefährden, sondern vielmehr dazu beizutragen, daß diese gefestigt werde, ist jeder Muslim dazu aufgefordert, sich den anderen gegenüber entsprechend brüderlich zu verhalten. Aus dieser Forderung ergeben sich bestimmte Aufgaben, die die Muslime untereinander für den Erhalt der Gemeinschaft im Sinne des Islam haben.
Die Aufgaben der Brüder untereinander
Mit dem Aussprechen des Glaubensbekenntnisses ist man automatisch Muslim und hat die Aufgaben wahrzunehmen, die der Islam im Sinne der Brüderlichkeit fordert. Von den Inhalten der Brüderlichkeit zeugen folgende Hadithe:
al-Nu`man ibn Bashir berichtet (681):
„Die Gläubigen gleichen in ihrer gegenseitigen Freundschaft, Barmherzigkeit und Güte dem Körper. Wenn ein Glied leidet, so kümmern sich alle anderen Glieder des Körpers um dieses Glied mit Wachen und Fieber.“ Buhari, Muslim (Khoury 1988, 339)
nach Djabir (682):
„Leiste deinem Bruder Beistand, sei es, daß er ungerecht handelt, sei es, daß er ungerecht behandelt wird …Da sagte ein Mann: O Gesandter Gottes, ich leiste ihm Beistand, wenn er ungerecht behandelt wird. Aber was meinst du, wenn er selbst ungerecht handelt, wie kann ich ihm denn beistehen? Er sagte: Du behütest ihn davor, oder du hinderst ihn daran, Ungerechtigkeit zu begehen. Das ist dein Beistand für ihn.“ Buhari, Muslim (Khoury 1988, 339/40)
Geschwister im Islam
Was die Familie im Kleinen zu verwirklichen hat, ist ebenso die Aufgabe der Brüderlichkeit im umfassenderen Sinn: Die Umsetzung der Gebote Gottes. Gewissermaßen ist diese Art des gesellschaftlichen Miteinanders eine Fortführung der Familie im Großen. So heißt es, dass alle Muslime der ganzen Welt untereinander wie Brüder und Schwestern, also Geschwister im Islam sind. Dazu heißt es u. a. im Koran:
Sure 9, 71:
„Nur die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind untereinander Freunde, sie gebieten nur, was recht, und verbieten, was unrecht ist, und sie verrichten das Gebet und geben Almosen und gehorchen Allah und seinem Gesandten.“
Sure 3, 104:
„Ihr wart Feinde, er aber vereinigte eure Herzen, und ihr seid, durch seine Gnade, Brüder geworden.“
Der Gleichheitsgedanke
Der Islam unterscheidet die Menschen nur danach, ob sie gläubig sind oder nicht. Ansonsten gelten alle Menschen als gleich, d.h. als ehr- und respektwürdige Geschöpfe Gottes. Alle Menschen haben dieselben Aufgaben und Pflichten untereinander und Gott gegenüber. Aus diesem Grunde gilt die Beleidigung eines Muslims als eine schwere Verfehlung. So ist es überliefert:
nach `Abdullah (18):
„Das Beleidigen eines Muslims ist eine schwere Übertretung! Und das Töten eines Muslims ist Unglaube!“ Buhari (Ferchel 1991, 432)
Die Brüderlichkeit gilt unter allen Individuen der islamischen Gemeinschaft. Unabhängig von Geschlecht, Alter, sozialem Status, Rasse oder Nationalität haben alle Muslime sowohl die Pflicht zu solidarischem Verhalten den anderen Muslimen gegenüber als auch das Recht auf die Solidarität der anderen. Dieses Denken soll Rassenhass und Diskriminierung verhindern und zu einer großen Völkerfamilie beitragen, die in Frieden und Gerechtigkeit leben kann, so wie Gott es von Anfang an gewollt hat.
So steht es im Koran und so hat es auch der Prophet auf seiner Abschiedswallfahrt in verkündet.Sure 49, 14 zeugt davon: „…und euch in Völker und Stämme eingeteilt, damit ihr liebevoll einander kennen mögt. Wahrlich, nur der von euch ist am meisten bei Allah geehrt, der am frömmsten unter euch ist; denn Allah weiß und kennt alles.“
Der Islam für alle Menschen gedacht, fern von Rassismus und nationalen Schranken. Das einzige was zählt, um zu dieser großen Gemeinschaft dazuzugehören, ist der gemeinsame Glaube. Darum sollen alle Muslime wie Geschwister zueinander sein und sich den anderen Gläubigen gegenüber entsprechend verhalten.
Gottes Lohn für gelebte Brüderlichkeit
nach Ibn `Umar (679):
„Der Muslim ist der Bruder des Muslims. Er behandelt ihn nicht ungerecht und weist ihn nicht zurück. Wer seinem Bruder in der Not beisteht, dem steht Gott in seiner Not bei.“ Buhari, Muslim (Khoury 1988, 339)
nach Mu`adh ibn Djabal (688):
„Gott sagt: Recht auf meine Liebe haben diejenigen, die um meinetwillen einander lieben, die um meinetwillen in Gemeinschaft sitzen und die um meinetwillen sich gegenseitig besuchen.“ Muslim (Khoury 1988, 342)
nach Djarir ibn `Abd Allah (705):
„Wer sich anderer nicht erbarmt, wird kein Erbarmen finden“ Buhari (Khoury 1988, 348)
Durch zahlreiche persönlichen Begegnungen und Gespräche mit muslimischen Menschen habe ich selbst erfahren, wie enorm Zusammenhalt und Unterstützung unter Muslimen sind. Besonders groß ist die Hilfe untereinander, wenn jemand allein in einem fremden Land ist. In diesem Fall hat ein Muslim sogar das Recht auf eine vorübergehende Unterkunft bei seinem muslimischen Bruder.
Auch habe ich anlässlich einer Tagung in Deutschland miterlebt, wie sich die dort anwesenden Muslime, Männer wie Frauen, mit der in der islamischen Welt durchaus üblichen Anrede „Bruder“ und „Schwester“ anredeten. Selbst die geladenen Professoren sie wurden nur mit der Bezeichnung „Bruder“ und ihrem Vornamen angeredet. Aus Erzählungen eines marokkanischen Studenten weiß ich, dass diese Form der Anrede in der islamischen Welt durchaus üblich ist. Die gilt nicht für hohe Regierungsbeamte, Politiker sowie Staatsoberhäupter.