Zwei Identitäten: Menschen – Würde?
Iris Bouhra
Wie James Dean stand er da – lässig an die Wand gelehnt – in Jeans und weißem Hemd – der Mann mit den zwei Identitäten. Er hatte das gewisse Etwas. Seine Statur war schlank und schlaksig. Sein Gang von einer seltenen Leichtigkeit. Seine Bewegungen und Gesten sanft und elegant. Ja, das war er, Feroz, der Mann mit den zwei Identitäten. Nur sein Gesicht ließ etwas von der Schwere seines Schicksals erahnen. Die Haut vernarbt, der Ausdruck seiner Augen immer etwas müde.
Seine Geschichte war lang und traurig. Seit zehn Jahren war er nun in Deutschland. Fast ebenso lange lebte er in diesem Flüchtlingswohnheim. Gern wollte er ausziehen, in eine eigene Wohnung. Es wurde ihm nicht erlaubt. Vor dem Krieg in seiner Heimat war er geflohen, und vor den Taliban. Damals war er noch jung und seine Hoffnung groß. Sein Traum war eine Zukunftsperspektive durch einen positiven Asylbescheid. Irgendwann am Anfang seiner Deutschland-Zeit verliebte er sich in eine Engländerin. Nach der Heirat wollte Feroz mit seiner Frau in England leben. Doch daraus wurde nichts. Er wurde nach Deutschland zurückgeschickt, denn dort hatte er seinen Erstantrag gestellt. Seine Frau wollte ihn zurückhaben, er durfte jedoch nicht mehr zu ihr. Schweren Herzens akzeptierte er die Situation und ließ sich scheiden. Zumindest seine Frau sollte die Chance auf ein neues Leben haben. Seit seiner „Rückkehr“ nach Deutschland lebte er also in diesem Flüchtlingswohnheim. Einen Aufenthalt bekam er nicht, seine Gründe waren wohl „zu schwach“. Er sollte „nach Hause“ zurück. Doch wo war sein zu Hause? Seine Worte klangen resigniert, als er sich zu seiner Situation äußerte: „Ich habe meine Heimat verlassen, weil dort KRIEG war. Wohin soll ich zurückgehen? Ich habe keine Familie mehr in Afghanistan.
Als ich ein Kind war, wurde ich von einer Granate schwer verletzt.“
Immer wieder erzählte er von seiner Heimat, vom Krieg und seinen Verletzungen. Welche wohl am meisten schmerzten? Ja, Narben hatte er genug, für sein ganzes Leben war er gezeichnet. Die Seelischen blieben im Verborgenen.
Besonders die langen Jahre in der Ungewissheit hatten ihn gezeichnet. „Hier habe ich mich eingewöhnt und deutsche Freunde gefunden. Ich habe Angst, dass mir etwas passiert, wenn ich zurückkehre. Außerdem weiß ich nicht, wo ich wohnen soll und womit ich meinen Lebensunterhalt finanzieren soll. Dort habe ich weder Verwandte noch Freunde. Die sind alle entweder gestorben oder geflohen. Ich arbeite den ganzen Tag, ich habe drei Jobs. Einen auf Abruf, als LKW-Fahrer. Außerdem arbeite ich in einem Döner-Imbiss. Ich habe immer viel gearbeitet. Auch Vollzeit, mit Krankenversicherung. Trotzdem bekomme ich keinen Aufenthalt und darf nicht in eine eigene Wohnung umziehen. Warum nicht? Ich kann das nicht verstehen!“
Um sich seinen Status als „dauerhaft Geduldeter“ möglichst lange zu erhalten, hatte er sich zwei Identitäten geschaffen. Abwechselnd schlüpfte er in seine afghanische oder pakistanische Rolle. Je nach Bedarf. Das hatte er sich für die Mitarbeiter der Ausländerbehörde ausgedacht. Seit zehn Jahren spielte er mit ihnen dieses Spiel. Sie konnten seine Identität nicht klären und so war ihm seine Duldung „sicher“. Sein Sachbearbeiter wollte diese Akte endlich schließen und von seinem Schreibtisch wegräumen. So wurde Feroz wieder einmal zur Botschaft geschickt, um seinen Reisepass zu beantragen. Doch er spielte weiter mit ihnen. Bei der pakistanischen Botschaft erklärte er, er sei Afghane, und wenn er bei der afghanischen Botschaft vorsprach, gab er sich als Pakistani aus. Feroz lachte viel: Über die deutschen Behörden – und über sein Schicksal. „Was soll ich tun!“ meinte er nur. „Gott ist größer!“ Im Gespräch wurde er wach, seine Augen begannen zu leuchten und wurden sehr jung. Verlorene Lebensträume ließen sich erahnen.
Zehn Jahre Gemeinschaftsunterkunft hatten ihn gezeichnet, und dennoch wirkte er sehr in sich ruhend und gelassen. Ergeben – in sein Schicksal? Feroz war gläubiger Muslim. Sein Glauben gab ihm den nötigen Halt in dieser absurden Situation. „Ich bin Sunni. Ich bete regelmäßig und am Freitag gehe ich in eine Moschee, so wie es Pflicht ist. Ich respektiere alle. Auch die Ahmadis. Islam ist nicht schwer.“ Das klang wie eine Einladung.
Natürlich hielt er auch die dritte Säule, das Fasten im Monat Ramadan, ein. Dafür nahm er sich seinen Urlaub, denn mit drei verschiedenen Arbeitsstellen konnte er den Ramadan unmöglich durchhalten. Sein großes Ziel war Mekka. Schon bald wollte er dorthin pilgern.
Am meisten bedauerte er, dass ihm sein Leben keine Chance geboten hatte, um eine Familie zu gründen und Kinder zu haben. Das hätte er sich sehr gewünscht.
Er fand keinen richtigen Platz. Um die Herausforderung seines „flüchtigen“ Lebens bestehen zu können, wurden von ihm viel Geduld und Stärke abverlangt. Seine Religion half ihm dabei. Sie gab ihm seine Identität, war zugleich Lebensmittelpunkt und Quelle. „Meine Religion gibt mir Ruhe, Richtung, Mut und Kraft. In Afghanistan – oder Pakistan,“ er schmunzelte, als er das sagte, „also in meiner Heimat war ich nicht sehr religiös. Ich war jung und wollte was erleben. Hier bin ich in fast zehn Jahren Lagerleben beinahe verrückt geworden. Ich hatte richtige Depressionen. Viele nehmen Drogen und sind alkoholabhängig. Meine Religion hilft mir, dieses Leben hier zu ertragen. Der Islam ist meine Heimat geworden. Ohne meinen Glauben, den ich hier – Allah sei Dank – wiedergefunden habe, wäre ich schon verrückt oder tot. So lebt zumindest meine Seele.“
Irgendwann holte er seine Post im Wohnheim nicht mehr ab. Der Sachbearbeiter meldete: „Feroz Y. ist untergetaucht.“ Würdevoll. Vielleicht ist er jetzt in England. Oder in Mekka.
Vielleicht ist er ein Paschtune.
Als er sich von mir verabschiedet hatte, nahm er zum Dank für Hilfe und Gespräche meine Hand, er nahm sie in beide Hände. Eine schöne Geste. Und fast unmerklich verließ er den Raum.