Iris Bouhra  – Freie Autorin

Marokkos Armut

Die vielen Gesichter der Armut

Materielle Armut

 

In Marokko leben etwa 6,3 Millionen Menschen unterhalb oder an der Armutsgrenze. In den Slums von Marokkos Großstädten haben Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und elementarer medizinischer Versorgung und in den ländlichen Regionen sind noch immer 85 Prozent der Dörfer ohne Stromanschluss sowie 70 Prozent ohne Wasser.

 

Bidonvilles

 

Bittere Armut in direkter Nachbarschaft von üppigem Reichtum und leichtfertiger Verschwendung: Gleich neben den schmucken Badeorten von Marokkos Metropolen mit seinen herausgeputzten Souks zeigt sich das traurige Gesicht des Landes: Baracken aus Wellblech und Plastikplanen entlang der Bahngleise von Marrakesch im Süden bis Tanger im Norden des Landes. Diese Bidonvilles (Barackenstädte) ziehen sich durch Marokkos Metropolen Casablanca und Rabat. Sie durchwuchern selbst die gutbürgerlichen Wohnviertel und machen auch vor der marmornen Moschee Hassan II nicht halt.

 

Gesundheit

 

Gesundheit ist teuer, nicht jeder kann einen Zahnarzt bezahlen und so haben bereits die 25 bis 30 jährigen unzählige Zahnlücken.

Doch auch Bildung, Unterkunft und Arbeit gehören in Marokko zu den Luxusgütern, über die nicht alle Menschen frei verfügen können und sogar der Zugang zu Wasser, Nahrung und Elektrizität ist in diesem Land nicht für alle Menschen sichergestellt.

 

Sozialhilfe

 

Sozialhilfe gehört in Marokko wie in anderen islamischen Ländern zu den religiösen Pflichten und ist von staatlicher Seite nicht vorgesehen.

 

Infrastruktur ländlicher Regionen

 

Die marokkanische Armut konzentriert sich insbesondere auf ländliche Regionen, wo etwa zwei Drittel der armen Menschen leben. Aufgrund der oftmals schlechten Infrastruktur sind Teile der ländlichen Regionen nicht ausreichend mit Wasser und Elektrizität versorgt. Da der Erfolg ihrer landwirtschaftlichen Produktion jedoch vom Wasser abhängig und der Weg zum Gemeinschaftsbrunnen sehr weit ist, fällt die Entscheidung über Armut und Reichtum bereits mit der Wasserversorgung.

Der „Exodus der Jungen“ nimmt kein Ende: Weg vom Land, suchen sie ihr Glück in der Stadt (Urbanisierung). Dort haben sie jedoch auch keine wirkliche Chance, da die jungen Menschen aus den ländlichen Regionen oftmals nur eine rudimentäre  Schulbildung bzw. eine schlechte Ausbildung nachweisen können. Die Folgen sind Slumbildung sowie wachsende Jugendarbeitslosigkeit (in den großen Städten bis zu 35 Prozent).

 

  Alltagsstress   

 

Der Dauerstress im Alltags- und Berufsleben bewirkt, dass die sprichwörtliche orientalische Gelassenheit mehr und mehr verschwindet. Das  marokkanische Arbeitssystem  ist sehr hart: Eine Arbeitswoche hat in der Regel sechs Tage, an denen täglich 10 bis 12 Stunden gearbeitet wird. Ein Tag pro Woche ist frei. Der Urlaub bietet häufig keine wirklichen Erholungsphasen, da er  kurz ist und zu Hause, im Café, vor dem Fernseher oder mit Schlafen verbracht wird.

 

Europa als Hoffnung der jungen Generation

 

„Die Armut ist schuld. Sie macht die Menschen krank. Es gibt keine Menschlichkeit mehr im sozialen Leben. Respekt und Mitgefühl sind uns abhanden gekommen. Menschenrechte werden hier nicht geachtet. Europa steht für Freiheit, Arbeit und Menschenrechte. Darum wollen so viele junge Menschen das Land verlassen.“ (Noureddine aus Südmarokko)

Die „üblichen“ Missstände wie Armut, Chancenlosigkeit, Korruption und Arbeitslosigkeit werden nicht behoben und die jungen Menschen verfallen in Lethargie. Sie stehen an den Straßenrändern und warten auf das Ende des Tages. Fatalismus und Verzweiflung greifen um sich, den jungen Menschen fehlt es an Mut machenden Erfolgserlebnissen. Der Wunsch, das Land zu verlassen, um in Europa eine lebenswerte Zukunft zu finden, bleibt als letzter Ausweg. 

 

 

Psychische Armut:  Orientalische Kulisse mit einer verstörenden Wirklichkeit

 

Ein Großteil der marokkanischen Bevölkerung lebt in großer Armut und ein Leben in (materieller) Sicherheit und Menschenwürde ist für sie unerreichbar.

 

 Innere Zerrissenheit

 

Die junge Generation des Landes lebt zwischen familiärer Erwartungshaltung, gesellschaftlicher Kontrolle und religiöser Tradition auf der einen und der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben in äußerer Freiheit auf der anderen Seite.

So kommt es, dass der Alltag der jungen Menschen häufig von einem Zustand der inneren Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne und daraus resultierenden Identitätsproblemen, psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Alkohol- und Drogenproblemen geprägt wird. In Facebook-Posts teilen die Jugendlichen ihren Unmut und ihre Sehnsüchte. Sie teilen ihn untereinander, doch gegen ihren absoluten Herrscher König Mohammed VI können sie nichts ausrichten.

 

Marokko ist beides: Moderne und Mittelalter

 

Vielerorts funktioniert die marokkanische Gesellschaft noch nach archaischen Regeln, die nicht einmal im Koran begründet sind. Sie hat sich nur bruchstückhaft und oberflächlich für die Moderne geöffnet, in ihrem Kern ist sie konservativ geblieben.

Werden ein Mann und eine Frau, die nicht miteinander verheiratet sind, zusammen auf der Straße gesehen, wird in der im sozialen Umfeld (Nachbarschaft) bereits schlecht über die beiden gesprochen.

Sexuelle Belästigung gehört in Marokko zum Alltag. Überall werden die marokkanischen Frauen von ihren Landsleuten belästigt: Beim Einkaufen, im Bus und auf der Straße. Der Islam verbietet Sexualität außerhalb bzw. vor der Ehe und …

„Köln ist auch in Marokko – nur nicht so öffentlich“

 

Arrangierte Ehen: „In Marokko gibt es keine Liebe“

 

Immer noch werden zahlreiche arrangierte und für beide Partner unglückliche Ehen geschlossen. Manchmal sind die Partner miteinander verwandt, manchmal hat der Mann bereits eine bedeutend ältere Ehefrau, mit der sein Wunsch nach Nachwuchs nicht erfüllt wurde. In einer „Stadt-Land-Ehe“ kommen zwei Menschen mit einem unterschiedlichen Sozialisationshintergrund und Bildungsniveau zusammen. Auch diese Umstände können die Ehe zur Qual für mindestens einen der beiden werden lassen.

„Marokko gibt es keine Liebe. Die Marokkanerinnen wollen nur Geld. Und ich habe kein Geld.“ (Das resignierte Fazit eines jungen Marokkaners.)

„Heirat aus Liebe geht nicht immer. Man kann nichts machen, wenn die Familie dagegen ist.“

 

Eheliche Untreue

 

Eheliche Treue wird von gläubigen Marokkanern sehr hoch bewertet und so findet auch erst in der Hochzeitsnacht der erste Geschlechtsverkehr statt. Ausnahmen gibt es natürlich auch hier. Diejenigen, die nur „mit dem Mund glauben“, halten sich nicht immer an religiös begründete Verbote und entschuldigen sich mit der Floskel „Allah verzeiht hoffentlich“.

 

Hohe soziale Kontrolle

 

Besonders deutlich zeigt sich die große Macht der sozialen Kontrolle und Anpassung im Fastenmonat Ramadan. Das Fasten wird von den meisten Muslimen eingehalten. Dies jedoch nicht mehrheitlich aus religiösen Gründen, sondern weil die gegenseitige Überwachung der Fastenden maximal ist. Nicht-Fastende müssen in Marokko mit schwersten Repressionen rechnen. Dies kann sich in Beschimpfungen, körperlichen Angriffen bis hin zu Gefängnisstrafen äußern.

 

Europa bedeutet Hoffnung

 

Die Motive der Jugend für die Sehnsucht nach Europa sind vielfältig. So steht Europa für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Arbeit sowie Respekt gegenüber dem Individuum. Die Chance, eine Familie gründen zu können ist größer für diejenigen, die im Ausland studiert haben.

Doch es geht nicht nur um Arbeit und den Verdienst für den eigenen Lebensunterhalt, sondern auch um die individuelle Freiheit. Die jungen Menschen wollen raus aus der heimatlichen sozialen Enge. „Lieber in Deutschland im Knast als zurück in dieses Elend zu gehen.“ (Rachid aus Casablanca)