Iris Bouhra  – Freie Autorin

Tunesischer Jihad

 

Radikalisierung hat nichts mit Religion oder religiösen Neigungen zu tun, sondern sie gibt den Rahmen für die Gewalt

 

Tunesien galt als Musterland des Arabischen Frühlings, das auf eine unblutige Revolte zurückblicken konnte und in dem 2014 die erste demokratische Gesellschaftsordnung in einem arabischen Land in Kraft gesetzt wurde. Seit 2015 ist der Terror auch in Tunesien angekommen und die Verflechtungen des IS haben unauslöschliche Spuren hinterlassen:

  • Am 19. März 2015 starben bei einem Terroranschlag im Bardo-Museum in Tunis 20 ausländische Touristen.
  • Am 26. Juni 2015 wurden am Strand von Sousse 38 Urlauber von einem jungen Tunesier erschossen.
  • Bei einem Bombenanschlag im November 2015 auf einen Bus der tunesischen Präsidentengarde wurden zwölf Menschen getötet, die meisten Todesopfer waren Mitglieder der Präsidentengarde.
  • Im November 2015 wurde der 16jährige Hirtenjunge Mabrouk von IS-Terroristen auf bestialische Weise enthauptet.
  • Im April 2016 versuchte die ISIS erfolglos, den Ort Ben Guerdane nahe der libyschen Grenze einzunehmen. Dabei wurden 45 Menschen getötet.

 

Terroropfer in Zahlen:

 

  • Mehr als 100 Soldaten und Polizisten
  • 20 Zivilisten
  • 59 ausländische Touristen

Was treibt junge Menschen in den Jihad?

 

Eine unvollendete Revolution sowie die Revolte-resistente Perspektivelosigkeit machen viele junge Menschen anfällig für Hassprediger und Gehirnwäsche. Vielfach sehen die jungen Menschen in ihrer Radikalisierung die einzige Antwort auf bestehende gesellschaftliche Miss-Verhältnisse und den einzigen Ausweg aus ihrem sinnentleerten Leben.

Der internationale Ländervergleich weist Tunesien als einsamen Spitzenreiter aus: Seit 2011 schlossen sich etwa 6.000 Tunesier dem IS als Kämpfer an und reisten nach Syrien, in den Irak und nach Libyen.

Die Ursachen

 

Arbeitslosigkeit und ökonomisches Leid führten 2011 zum Volksaufstand und sind trotz Demokratie und zaghafter Gehversuche der  demokratischen Gesellschaftsordnung noch lange nicht behoben. Insbesondere die abgelegenen Regionen des Landes werden nach wie vor vernachlässigt. So haben Extremisten dort ein leichtes Spiel, wenn sie die jungen Männer mit pauschalen Versprechen von einem „besseren Leben“ rekrutieren. Es ist zwar eine Minderheit, die sich tatsächlich der IS anschließt, jedoch eine gefährliche, die nichts zu verlieren hat.

 

Personenkreis: Generation „No-Future“

 

Der IS rekrutiert seine Kämpfer quer durch alle Bevölkerungsschichten. So sind unter den Jihadisten zahlreiche Kleinkriminelle, die den Jihad möglicherweise als „ruhmreichen Abschluss“ aus einer Kleinkriminellen-Karriere sehen.

Und nicht nur Jugendliche aus armen Verhältnissen lassen sich von Hasspredigern verführen, sondern auch junge Menschen aus gut bürgerlichen Verhältnissen wie Studenten, Angestellte im öffentlichen Dienst und Personen aus gut bezahlten Berufen im Privatsektor. Das Alter der jungen Männer bewegt sich zu 80 Prozent zwischen 18 und 34 Jahren.

Es wird davon ausgegangen, dass etwa zehn Prozent der Täter aus Überzeugung handeln, weitere zehn Prozent durch Familienmitglieder in das islamistische Milieu gerutscht sind und 80 Prozent Mitläufer sind.

 

 Radikalisierung beginnt oft in den Gefängnissen

 

Ein Drittel der tunesischen Häftlinge (etwa 8.000 Personen) sitzt wegen des Konsums von Cannabis in Haft. Das sind häufig junge Menschen, die sich leicht beeinflussen lassen. Syrien-Rückkehrer sitzen mit den Kleinkriminellen zusammen in einer Zelle.

Salafistische Strömungen versuchte der tunesische Staat mit dem Antiterrorgesetz von 2003 zu bekämpfen, in diesem Zusammenhang wurden mindestens 2.000 Personen verurteilt und inhaftiert.

Im Gefängnis begegnen sich diejenigen, die aus dem Ausland abgeschoben wurden und diejenigen, die zu Hause in Tunesien inhaftiert wurden. Hier haben die Terroristen genug Zeit, sich untereinander kennenzulernen, neu zu vernetzen und neue Jihadisten zu rekrutieren.

 

 Generalamnestien

 

Bereits 2011 begannen Extremisten in Tunesien, junge Menschen anzuwerben. Unter Ben Ali waren sie zu langen Haftstrafen verurteilt worden und sie kamen in den Wirren der Revolution frei – bei Gefängnisausbrüchen wenige Tage nach dem Sturz des Diktators und bei zwei Generalamnestien im Frühjahr 2011. Anfang 2011 wurden bei einer Generalamnestie Tausende politischer Häftlinge entlassen. Unter den Freigelassenen waren jedoch nicht nur politische Gegner des Ben-Ali-Regimes, sondern auch radikale Islamisten. Als 2011 die Konflikte in Libyen und Syrien begonnen, schlossen sich viele Freigelassene dem dortigen IS an.

 

Die Rolle der Moscheen

 

Rund ein Drittel der 5.100 tunesischen Moscheen geriet nach dem Umbruch in Tunesien unter den Einfluss gewaltbereiter Salafisten. Diese kooperierten mit Gleichgesinnten in Libyen. Die Regierung erkannte dieses Phänomen viel zu spät und nahm es auch nicht ernst.

Seit 2011 hatte der Staat kein Kontrollrecht mehr über die Moscheen. Bis zum Sommer 2013 konnten diese Extremisten relativ frei in Tunesien walten und ihre Strukturen aufbauen, um potenzielle Kämpfer anzuwerben. Das Land war zu sehr mit sich beschäftigt, diese Entwicklung wurde zunächst gar nicht wahrgenommen.

Nach der Revolution wurden etwa 8.000 Vereine gegründet, von denen etwa zwei Drittel allein dazu dienten, um Kämpfer zu rekrutieren. Inzwischen wurden zahlreiche Rekrutierungsbüros wieder geschlossen und der Staat hat wieder die Kontrolle über die meisten radikalen Moscheen erlangt. Zahlreiche Terrorverdächtige wurden festgenommen.

 

Gehirnwäsche

 

Radikale Islamisten lockten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Geld, Anerkennung, Teilhabe, Gemeinschaft und dem Gefühl von Zugehörigkeit. Sie boten ihnen all das, was ihrem Leben fehlte. Ohne fundierte Kenntnisse der Religion kippten die meisten von ihnen sehr schnell, innerhalb von wenigen Monaten hat sich ihr innerer Wandel vollzogen und sie sind bereit, für ein „nobles Ziel“ zu kämpfen, für den „wahren Islam“.

Letztendlich geht es nicht um den Islam oder um eine besondere Lesart, sondern um Gewalt. Die jihadistische Doktrin nistet sich in die geistige Leere der Jugend ein. Eine extrem gewalttätige Lesart des Korans gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Wut und ihren Lebens-Frust zu kanalisieren, das heilige Buch „legitimiert“ ihre Gewalt und macht sie gar zu Märtyrern.

 

Geld für Anwerber und Familien

 

Nach Angaben der Vereinten Nationen erhalten die Anwerber zwischen 3.000 und 10.000 US-$ für jeden Kämpfer, die Familien der Jihad-Kämpfer werden sowohl finanziell als auch materiell unterstützt.

 

Die Organisation „Ratta“

 

Ikbal Ben Rejeb, Gründer der Organisation „Ratta“ (Verein zur Rettung im Ausland festsitzender Tunesier), sagt zu den Motiven der jungen Jihadisten:

„Sie träumen vom Paradies, wollen als Märtyrer sterben und propagieren eine Kultur des Todes.“

Seine Organisation hilft tunesischen Familien, ihre Söhne aus Syrien oder dem Irak zurückzuholen. Außerdem will sie den Kämpfern, die bereits im Ausland sind, den Ausstieg aus dem IS ermöglichen und gleichzeitig in Tunesien verhindern, dass sich noch mehr Jugendliche extremistischen Gruppierungen anschließen.

Die Zielgruppe der Anwerber seien junge Menschen von 18 bis 25 Jahren, die in ihrem Leben noch nicht gefestigt seien. Ihnen wurde in den Kopf gesetzt, dass sie Syrien von Baschar al Assad befreien könnten. Sie wollten die tunesische Revolutionseuphorie andere arabische Länder, in denen der Umbruch (noch) nicht gelungen war, exportieren.

 

Erklärungsansätze des tunesischen Politologen Hamza Meddeb

 

Angesichts der hohen Zahl gewaltbereiter Tunesier in djihadistischen Netzwerken:In diesem Zusammenhang beruft sich Meddeb auf zwei wichtige Entwicklungen:

  1. Zahlreiche Ereignisse politisierten die tunesische Jugend: die zweite Intifada 2002, der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah 2006, der Gazakrieg 2008, die Irak-Invasion (bereits in dieser Zeit gingen mehrere hundert tunesische Djihadisten in den Irak).
  2. Ein Jahrzehnt der immensen sozialen Krisen, das von hoher Arbeitslosigkeit, insbesondere unter den Akademikern („Akademikerschwemme“), begleitet wurde.

In diesem Jahrzehnt begannen die sozialen Proteste in Tunesien. Das Regime konnte den Jugendlichen keine Zukunftsperspektiven bieten und die daraus erwachsende Sinnkrise der jungen Menschen (Generation „No Future“) – hat sich der Gewalt verschrieben, gegen Gesellschaft und Staat, worauf das Regime wie gewohnt mit Repressalien antwortet.

 

Die Rolle des Staates

 

Der Staat macht sich vermehrt und ausschließlich Gedanken um eine bessere Koordination von Sicherheitskräften und einer Optimierung der Strafverfolgung.

In seinem Kampf gegen den Terror müsste Tunesien an den Ursachen des Übels arbeiten. Dies wird jedoch vernachlässigt, stattdessen wird lediglich über Sicherheitsaspekte nachgedacht. Um die Ursachen der Radikalisierung zu beheben, müsste das Land bei der jungen Generation ansetzen. Letztendlich fehlt es an wirkungsvoller Prävention in Form von Zukunfts-Perspektiven. Es fehlt immer noch an Arbeitsplätzen, sinnvollen Freizeitmöglichkeiten, Kulturangeboten und Jugendzentren.

Im religiösen Bereich sind Reformen überfällig. Die Imame sind überaltert, die Mehrheit hat keine Hochschulausbildung und ist verbal nicht gewappnet gegen radikales Gedankengut.

 

Die Frage nach dem Umgang mit den Rückkehrern

 

Wie soll das Land mit den (gut ausgebildeten) radikalen IS-Rückkehrern umgehen?

Unklar ist, wie viele der tunesischen IS-Kämpfer noch leben und wie viele von ihnen vielleicht in syrischen Gefängnissen sitzen. Da viele von ihnen illegal über den Landweg (Libyen) nach Syrien ausgereist sind, ist kaum nachvollziehbar, wie hoch die tatsächliche Zahl der Ausgereisten ist.

Werden die tunesischen Sicherheitskräfte der vermuteten hohen Zahl gut ausgebildeter IS-Kämpfer im eigenen Land gewachsen sein?